Im Sommer 2016 lernten wir mitten im wunderschönen Nirgendwo auf einem schwedischen Campingplatz eine Familie aus Leipzig kennen. Eltern, Kinder, Zelt, Natur – ein absolutes Match. Abends saßen wir oft zusammen. Kartenspiele, Lagerfeuer und Dosenbier. Die Kinder schliefen im Zelt. Eines Abends war ein Kind nicht in seinem Schlafsack: Jesse – Kindergartenkind, Abenteurer und seit seiner Geburt taub. Zum Schlafen schalteten die Eltern das Cochlea Implantat immer aus. Absolute Stille. Ich habe mir bis zu diesem Tag wenig Gedanken über das Hören und gehört werden gemacht. Über Grenzen der Kommunikation und deren Überwindung. Über Gebärdensprache. Wie sucht man ein Kind ohne rufen zu können? Wir haben rumgefragt und Jesse zum Glück schnell gefunden. Auf der Rutsche. Ganz glücklich. Danach habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Wie kann Sprache mehr Teilhabe ermöglichen? Für ältere und schwerhörige Menschen, Nicht-Muttersprachler*innen, Seh-Eingeschränkte und Menschen, die taub sind.
Direkt zu Anfang: taub, TAUB, gehörlos, taubstumm, höreingeschränkt – was ist das korrekte Wording? Wie möchtest Du bezeichnet werden?
Die Begriffe taub und gehörlos sollten verwendet werden. Taubstumm ist ein diskriminierendes Wort, welches veraltet ist und einer Beleidigung gleichkommt. Leider wird es heutzutage dennoch häufig genutzt.
Wie ist Dein Alltag? Als Frau? Als Mutter? Auf der Arbeit?
Wie das Wort Alltag schon besagt, empfinde ich auch meinen als ganz normal. Ein großes Problem, das mich begleitet, ist der Dolmetscher*innenmangel. Es gibt zu wenig Gebärden-sprachdolmetscher*innen und das kann vor allem bei kurzfristigen Notfällen gefährlich werden. Beim Einkauf oder anderen Erledigungen erschwert mir die Maske meine Kommunikation mit anderen Menschen. Dabei ist dies aufgrund der Ungeduld vieler Mitmenschen ohnehin nicht einfach. Ihnen zu erklären, dass die Maske abgenommen werden oder zumindest Zettel und Stift zur Hand genommen werden muss für ein gelingendes Gespräch ist mein ewiges Mantra geworden. Ich bin Mama von zwei gehörlosen Kindern. Meine große Tochter besucht eine Regelschule und erfährt durch die ständige Anweseiheit von Gebärdensprachdolmetscher*innen Integration. Mein Sohn geht nun in den Kindergarten. Aktuell bin ich in Elternzeit und arbeite nebenbei als Influencerin.
Zukunftsvision: Wie kann eine Gesellschaft barriereärmer für taube Menschen werden?
Um Barrierefreiheit für alle erzielen zu können, müssen zwingend mehr Dolmetscher-*innen bei öffentlichen Veranstaltungen und im TV engagiert werden. Im Fernsehen sollten zudem unbedingt 100 % Untertitel zugeschaltet sein. Auch in öffentlichen Verkehrsmitteln (Zug, etc.) sollten die Informationen über Bildschirme in Gebärdensprache oder Schriftsprache angezeigt werden. Im beruflichen Kontext haben gehörlose Menschen immer noch zu wenig Wahlfreiheit. Auch hier muss noch nachgebessert werden beim Thema Inklusion.
Wäre Gebärdensprache als Unterrichtsfach an Schulen ein wichtiger Schritt zur Inklusion?
Ich denke, dass Gebärdensprachunterricht an den Schulen angeboten werden muss. Nicht nur die Gehörlosen, sondern auch die hörenden Schüler*innen würden hiervon sprachlich und sozial profitieren. An den Schulen mit Förderschwerpunkt Hören (Gehörlosenschulen) können viele Lehrkräfte nicht gebärden und somit den Stoff schwerer vermitteln. Die meisten nehmen LBG (lautsprechbegleitende Gebärden) als Alternative, doch diese haben nichts mit der Grammatik der Deutschen Gebärdensprache gemeinsam.
— Die Fragen stellte Sophie Duczek