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Ohne Licht kein Schatten

Auf dem weißen Papier erscheinen Schemen, dunkle Felder und Konturen: Langsam entwickelt sich in der Wanne mit der Flüssigkeit auf dem Fotopapier das Bild, das zuvor mit einer Kamera eingefangen wurde. In völliger Dunkelheit wird das analoge Foto entwickelt und wie durch ein Wunder wird aus weiß schwarz, ergeben dunkle Schatten eine Gesamtheit und wird aus dem Negativ des Fotos ein erkennbares Bild.

Vor den Zeiten der Digitalkamera benötigte das Herstellen von Fotos Geduld. In der Dunkelkammer auf fotosensitivem Papier in chemischen Lösungen ein Bild zu erzeugen; war ein langer Prozess. Dabei war vom Einfangen des Motivs in der Kamera bis zum Belichten des Fotos immer abzustimmen, wie viel Licht und wie viel Schatten nötig sind. Überbelichtung oder Gegenlicht zerstören ein Foto – ohne das harmonische Zusammenspiel von Licht und Dunkelheit entsteht kein Bild. Beides bedingt sich.

Eine Wechselbeziehung, in der ein abgestimmtes Gleichgewicht vorhanden sein muss, damit etwas Neues entstehen kann. Ebenso wie beim Foto, das Kontraste benötigt, funktioniert das menschlichen Auge: Ohne Licht kann es nichts sehen, aber ohne Unterschiede in der Helligkeit ergibt sich dem Auge kein erkennbares Bild. Intelligent passt es sich an die Umgebung an und kann Dunkelheit adaptieren – sodass die Stäbchen auf der Netzhaut dafür sorgen, dass man zum Beispiel am Nachthimmel Sterne und Sternschnuppen erkennen kann.

Obwohl sich Licht mit einer Geschwindigkeit von knapp 300.000 km pro Sekunde bewegt, sind die Quellen dieser Sternenlichter schon längst versiegt. Auf der Erde kommt nur das Licht erloschener Sterne an. Das gilt allerdings nicht für das Licht der Sonne, das noch einige Milliarden Jahre brennen soll. Das Sonnenlicht braucht acht Minuten, bis es auf die Erdoberfläche trifft. Hier ist es dann dafür zuständig, dass in direkter Linie zur Sonne hinter Gegenständen, die von ihr belichtet werden, ein Schatten entsteht. In diesem Schatten befindet sich durch die Drehung der Erde um sich selbst auch immer eine Hälfte der Erdkugel und sorgt für den Wechsel zwischen Tag und Nacht. Dabei liegt die Nachthälfte im Schatten der Sonne, während die Tageshälfte von der Sonne beschienen wird.

Dazu kommt noch, dass über den Verlauf des Tages der Sonnenstand dafür sorgt, welche Länge Schatten haben. Je näher wir uns dem Zeitpunkt des Sonnenaufgangs oder Sonnenuntergangs nähern, desto länger erscheinen die Schatten von Menschen, Bäumen und Gegenständen. Dieses Phänomen variiert im Laufe der Jahreszeiten und kann sogar Auswirkungen auf die Psyche des Menschen haben. Nicht umsonst wird von der dunklen Jahreszeit, der Winterdepression und Frühlingsgefühlen gesprochen.

Der Wechsel zwischen Sommer und Winter, zwischen Tag und Nacht, der Kontrast zwischen Nachthimmel und Sternen, zwischen dunkel und hell umfasst immer zwei Zustände, die miteinander verbunden sind: Sie sind Gegenteile, aber sie existieren nicht ohne ihr Gegenstück.

Ein Foto in der Dunkelkammer lässt sich nur ohne Tageslicht erstellen. Kein Licht

auf dem Papier ohne absolute Dunkelheit. Und so ist es auch mit Licht und Schatten: Das eine geht nicht ohne das andere. Ohne Licht kein Schatten, kein Schatten ohne Licht. Zwei Seiten derselben Medaille, zwei Zustände, die nur miteinander und nicht ohne einander existieren.

— Kai Regener

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