Schwerpunkt

Grenzen in unseren Köpfen

Einmal für längere Zeit ins Ausland – das wünschte ich mir auch für mein Studium.

Nachdem ich 2009 mein Masterstudium fürs Lehramt begonnen hatte, stieß ich auf ein spannendes Programm der Robert-Bosch-Stiftung. Völkerverständigung macht Schule vermittelte Studierende an Schulen mit Deutschunterricht in Mittelosteuropa und Osteuropa – also in Länder, die irgendwo zwischen Polen, dem Balkan und Kasachstan lagen. Mich reizte die Möglichkeit, in guter Betreuung an Schulen Praxiserfahrung zu sammeln und das auch noch außerhalb von Deutschland.

Im Bewerbungsgespräch wurde ich gefragt, welche Länder ich mir vorstellen könne – »Tschechien«, »das Baltikum« waren meine Antwort.

Aus dem Baltikum und Tschechien wurde aber nichts – irgendwann im Mai 2010 trudelte eine Mail ein, man habe mir einen Platz zugeteilt: in Saporishshja, in der Ukraine. Meine erste Recherche war, wie man den Namen dieser Stadt ausspricht (es sind wirklich zwei sch nacheinander) und wo sie eigentlich genau liegt (im Osten der Ukraine, am Fluss Dnipro).

Der Hinweis meines Mentors, dass Saporishshja Industriestadt sei und die Schüler*innen der Schule jeden deutschen Malwettbewerb gewinnen würden, weil die Schlote des Viertel der Schule liegenden Industriegebietes mal rot, mal schwarz, mal golden ausstoßen würden – feuerte meine Vorstellungen nicht positiv an.

Und als es im September 2010 dann losging, fuhr ich mit dem Zug in Berlin los – in 36 Stunden von Deutschland nach Odessa ans Schwarze Meer. Auf dem Weg überschreitet man rein physisch zwei Grenzen: die deutsch-polnische Grenze und dann die polnisch-ukrainische. Während der erste Grenzübertritt innerhalb der EU unmerklich von Statten ging, war die Ankunft in der Ukraine einprägend: Aufgrund der unterschiedlichen Spurweiten der Schienen müssen beim Grenzübertritt alle Radsätze des Zuges gewechselt werden. Dafür wird der gesamte Zug aufgebockt und schmale gegen breite Radsätze getauscht. Das gesamte Prozedere dauert mehrere Stunden.

Angekommen im Alltag vor Ort war ich konfrontiert mit den mentalen Grenzen – einer mir kaum bekannten Sprache, dem kyrillischen Alphabet und kulturellen Unterschieden. In den ersten Wochen unterliefen mir ungezählte Fauxpas – bis ich verstanden hatte: Es gibt zwei verschiedene Bahnhöfe in der Stadt. Mal zahlt man beim Einstieg in den Bus, mal beim Ausstieg. Im Supermarkt muss man am Ausgang den Kassenbon vorzeigen oder wird nicht hinausgelassen. Für Pakete ins Ausland müssen alle Bestandteile einzeln abgewogen und notiert werden.

Im Alltag verstand ich aber schnell, dass zum einen alle Unwägbarkeiten überwindbar und zu verstehen waren. Zum anderen wurden keine meiner Sorgen und Vorurteile bestätigt. Dies lag vor allem daran, dass sich alle Menschen, die ich in der Ukraine näher kennenlernte, vorbildlich um mich kümmerten und mich unterstützten, wann immer Hilfe nötig war – egal, ob auf dem Amt, beim Umzug oder beim Fahrkartenkauf. Meine Zeit in Saporishshja wurde so bei allen Hürden immer eine Schöne und Lehrreiche. Ich habe in der Ukraine gelernt, wie groß Gastfreundschaft sein kann und wie wichtig es ist, gesund zu sein, Freunde und Familie zu haben und sich auch mit den einfachen Dingen glücklich zu schätzen.

— Kai Regener

Mehr in:Schwerpunkt

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Skip to content