Schwerpunkt

Bildung – Was geht?

Unterricht am offenen Fenster, Schulbücher von 1991, die nur noch mit Klebestreifen zusammenhalten, marode Schulgebäude, Dia­­pro­jektoren statt WLAN, volle Klassen und Lehrer*innenmangel. Wie steht es um Jugend & Bildung? Ganz aktuell. Das fragen sich Leo Kottmann (Schüler) und Kai Regener (Lehrer).

Montagmorgen, erste Stunde, Deutsch Leistungskurs. Schüler*innen der Q2 sitzen in Kleingruppen in gemütlichen Sitzecken, auf Sitzsäcken, Kaffee auf dem Beistelltisch, Laptop oder Tablet auf dem Schoß. Wer nicht hier sein kann, ist virtuell zugeschaltet. Thema ist die Novelle Das Haus in der Dorotheenstraße von Hartmut Lange, in der es auch um die Gestaltung von Beziehungen, den Umgang miteinander und die Zukunft geht. Gearbeitet wird mit verschiedenen Apps. Eine Gruppe hat eine Videokonferenz mit einem Gymnasium in Berlin, die das gleiche Stück behandeln. Die Schüler*innen der beiden Schulen tauschen sich aus und diskutieren einen Interpretationsansatz.


Montagmorgen. Mit Abstand, Maske und offenen Fenstern sitzen wir in Reihen im Klassenraum. Blick nach vorne zur Lehrerin. Die Kreidetafel-Skizze notieren wir auf unseren Collegeblöcken. Einige haben Laptops dabei, um die Ergebnisse mitzutippen, Recherche zur Novelle unmöglich, denn WLAN in der Schule ist, trotz vieler Anstrengungen der Schulleitung, Zukunftswunsch. Ich frage mich, inwiefern mir die Interpretation des Endes der Novelle (hat Gottfried Klausen seine Frau ermordet oder nicht?) in meinem späteren Leben weiterhilft. Zwar lerne ich in der Schule, wie ich mir alles Nötige beibringen kann, doch es fühlt sich nicht wie ein aktiver Lernfortschritt an. Ohne funktionierendes Internet und ohne ausreichende technische Ausstattung ist das Lernen auch durch die bereitgestellten Apps nicht möglich. Oft wünsche ich mir, wenn ich im Unterricht sitze, dass meine Kreati­vität, Selbständigkeit und die Kompetenzen, etwas kritisch hinterfragen zu können, mehr gefördert werden würden. Trotzdem fördert die Schule die sozialen Kompetenzen und den Umgang mit anderen Menschen.

An der Novelle werden Probleme im Umgang miteinander deutlich, die ich in meinem Leben mit meinen Freund*innen vermeiden kann. Somit bietet der Lernstoff eine Stütze für mein reales Leben und hilft mir möglicherweise dabei, dieses besser zu bewältigen. — Leo Kottmann


Montagmorgen, erste Stunde, Deutsch-Leistungskurs. In der noch etwas angegähnten Post-Wochenend-Stimmung versuchen sich meine Schüler*innen an der Interpretation eines Eichendorff-Gedichtes. In diesem Lyrik-Stück ziehen zwei junge Männer von Zuhause los und erkunden die Welt. Einer wird sesshaft und gründet eine Familie, der andere scheitert an den Verlockungen, der großen weiten Welt. In der Arbeitsphase schweife ich mit den Gedanken ab – wie werden meine Schüler*innen eigentlich auf die Herausforderungen des Lebens nach der Schule reagieren? Droht ihnen auch das Scheitern? Oder sind sie auf die Anforderungen der Zeit nach dem Schulabschluss gut vorbereitet?

Viel wird über das deutsche Schulsystem lamentiert: zu starr, zu verkopft, zu alt. Diese Vorwürfe sind berechtigt und miteinander verknüpft. Das fängt mit dem Stundenplan an: Zwölf oder mehr Unterrichtsfächer werden in ein 45-Minuten-Raster gestopft. Gleitzeit, flexible Zeiteinteilung oder an den Biorhythmus angepasste Pausen kennen in der Schule sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen nicht.

Ebenso starr wie der Tagesablauf sind die behandelten Inhalte: Faust, Fotosynthese, Funktionalgleichung. Natürlich ist Schule dafür da, ein Basiswissen zu erwerben; ebenso lassen sich viele Themen an Aktuelles anknüpfen und übertragen. Aber große Teile der Lehrpläne sind oft schon so weit weg von meinem eigenen Lebensalltag, dass sie meinen Schüler*innen wie ein Relikt des letzten Jahrhunderts vorkommen müssen. Das gilt dann besonders für die Prüfungsformen: Eine Analyse in Textform zu schreiben, die dann genau eine andere Person liest – nämlich der*die Lehrer*in – hat keinen Mehrwert. Man stelle sich vor, ein Unternehmen würde einführen, dass seine Mitarbeiter*innen alleine, ohne Hilfsmittel und nur mit Blatt und Papier arbeiten müssten.

In vielen Schulen Deutschlands gibt es aber außer Papier – und Kreide, Tischen und Stühlen – gar nicht viel. Kein WLAN, keine IT-Administration, zu wenig Fachlehrer*innen, marode Bausubstanz …  Diese Liste ließe sich fortsetzen. Zwar ist eine gute Ausstattung kein Garant für gute Bildung, aber erleichtert sie enorm – und bereitet auf die Arbeitsformen an Uni und im Beruf vor.

Zurück im Unterricht: Der präsentierenden Kleingruppe gelingt eine schöne Interpreta­tion des Gedichtes von Eichendorff. Ob meine Schüler*innen diese Ergebnisse jemals wieder brauchen werden, weiß ich nicht. Aber dass sie in ihrer Zukunft scheitern werden, glaube ich nicht. Denn ich bin mir sicher, dass sie neben den unterrichtlichen Inhalten viel über unsere Gesellschaft in Kleinform lernen – und für das Leben. Aber Deutschland stünde ein Bildungssystem, das flexibel, praktisch und gut ausgestattet auf aktuelle Entwicklungen reagierte, deutlich besser.  — Kai Regener

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