Schwerpunkt

Auf Wanderschaft – Weg aus der Heimat

Zwei Jahre und acht Monate ist Bine nach ihrer Ausbildung auf Wanderschaft. Sie reist durch Deutschland, nach Österreich, in die Schweiz
und bis nach Südamerika.

Dort arbeitet sie bei verschiedenen sozialen Bauprojekten mit. Während dieser Zeit darf sie zu ihrem Heimatort nicht zurück. Auch nicht in die Nähe. Bine darf die Bannmeile von 50 km nicht überschreiten. Sie hält es ein – 44 Monate. Sie hat kein Handy dabei – das gibt sie ab. Kontakt hat sie nur selten nach Hause. Mal über Email, Telefon oder Brief, wenn sie die Möglichkeit hat. Wie es ist, so lange von der Heimat und den Freund*innen getrennt zu sein, erzählt sie mir, als ich sie in Köln treffe.

Bine macht nach der Schule eine Ausbildung zur Autolackiererin, danach beschließt sie Tischlerin zu werden. Sie kommt nach Köln und bleibt – erstmal. Danach geht sie auf Wanderschaft: Zwei Jahre und acht Monate zieht sie als Wandergesellin durch die Welt. Ihrem Heimatort darf sie sich auf 50 km nicht nähern. Sie klettert über das Ortsschild – das ist Tradition – dann geht sie los. Sie darf kein Geld bei sich haben, auch später nicht, wenn sie zurückkommt. Wanderschaft soll eine persönliche Erfahrung sein – ein Abenteuer und keine Bereicherung. Ohne Geld unterwegs zu sein – das bedeutet, sich auf die Gesellschaft und sich selbst verlassen zu müssen. Zu ver­trauen. Es ist ein Anreiz, mit anderen eher ins Gespräch zu kommen und sich auf neue Kontakte einzulassen. Um Unterstützung zu bitten und kreativ zu sein. Für Fortbewegung darf Bine auch kein Geld ausgeben. Sie muss trampen oder mit öffentlichen Verkehrsmittel fahren und vorher fragen, ob sie kostenlos mitfahren darf. Als Gepäck hat sie nicht viel. Ein paar Wechselklamotten, ihr Wanderbuch – die Flippe – und ihre Krankenversicherungskarte. Sonst hat sie nichts dabei. Bine trägt ihre Tischler*innen-Kluft: eine schwarze Schlaghose aus grobem Cord, Weste, Jackett, weißes Hemd und natürlich einen Hut, den Deckel. „Das ist wichtig“, erklärt mir Bine, „der Hut ist das Symbol einer freien und unabhängigen Person.“ Früher galt er im Mittelalter als Statussymbol für Bürger*innen, die sich frei bewegen durften. Noch heute ist die Kluft das Erkennungsmerkmal verschie­dener Zünfte: Grün tragen Florist*innen und Gesell*innen im Garten- und Landschaftsbau, Weiß die Bäcker*innen, Rot die Schneider*innen und Maler*innen, Grau die Steinmetz*innen und Blau alle Gewerke, die mit Metall arbeiten. Bines Farbe im Holzhandwerk ist schwarz. „Alle Personen mit Gesell*innenbrief dürfen losziehen“, erzählt mir Bine, „auch z. B. Maskenbildner*innen und Frisör*innen.“ Auf Wanderschaft oder auch auf die Walz gehen, ist mit vielen Traditionen verknüpft. Schuldenfrei, unverheiratet, kinderlos, nicht älter als 27 Jahre – das sind die Startbedingungen. Nie darf man sich länger als drei Monate an einem Ort aufhalten. Den*die Bürgermeister*-in muss man dabei um Erlaubnis bitten, sich in diesem Ort aufzu­halten. Bine zeigt mir ihr Wanderbuch – voller Ortsstempel. Früher war die Wanderschaft für alle Gesell*innen Pflicht, wenn sie die Meister*innenausbildung machen wollten, heute ist eine Möglichkeit. Die Chance zu reisen, zu lernen und Neues zu entdecken. Ganz losgelöst – ohne Backup in die Heimat. Das sagt auch Bine. „Reiselust und etwas anderes zu lernen!“, das war meine Motivation. Richtig Heimweh hat sie die Zeit über nicht – aber ihr fehlt schon gutes Brot.

Bine ist zunächst drei Monate mit ihrem Export-Gesellen – ihrem Ausbildungsgesellen – unterwegs. Dann alleine, mal in kleineren Gruppen. Besonders schön war die Zeit in Argentinien. Sie lernt die Sprache – das gibt ihr mehr Sicherheit – dort arbeitet sie an verschiedenen Orten für Kost und Logis. Sie mag das Minimalistische, losgelöst von materiellen Dingen. In Paraguay landet Bine bei einer Mennonitengemeinschaft. Eine Gruppe Freikirchler*innen, die auf Technik und Fort-schritt verzichten und in sehr traditionellen und konservativen Rollenmodellen leben. Selbstbewusst. Als Frau. Als Handwerkerin: Ein Culture Clash. „Reisen bildet und erweitert den Horizont. Ich habe gelernt, mit Herausforderung umzugehen, etwas durchzustehen oder klar Grenzen zu ziehen und weiterzugehen.“ Nach zwei Jahren und acht Monaten klettert Bine wieder über das Schild ihres Heimatortes. Geschafft! Bine ist nun einheimisch. Auf Wanderschaft war sie scheinheimisch.

Ob sie das alles nochmal machen würde? „Auf jeden Fall, man lernt so viel über sich und hat danach einen ganz anderen Blick auf die Heimat. Deutschland ist viel gastfreundlicher und offener als man denkt – man muss nur fragen und mit den Menschen in Kontakt kommen.“

— Sophie Duczek

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Stalking

Unheimliche Schatten Briefe, Anrufe, Nachrichten per Messenger. Schritte, Blicke und das Gefühl, nicht allein zu ...

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